Handbuch Literaturwissenschaft

Gegenstände - Konzepte - Institutionen

Herausgegeben von Thomas Anz
Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2007

Aus der Einleitung des Herausgebers (in Bd. I):

Bei der so spannenden wie lehrreichen Arbeit an diesem Handbuch Literaturwissenschaft und der Suche nach den bestmöglichen Mitarbeitern haben sogar manche Absagen Freude gemacht. Ein sehr guter Kenner der Geschichte der Literaturwissenschaft kommentierte das Exposé zu dem Vorhaben im Februar 2006 mit dem Kompliment, er habe sich den »Prospekt des Unternehmens angesehen, das es ja zu Walzels Zeiten fast gleichlautend schon einmal gegeben hat und das sich in der zeitgemäßen Neufassung übrigens spannend, interessant und verheißungsvoll nützlich ausnimmt«. Erinnert hatte ihn das Konzept an das von Oskar Walzel herausgegebene Handbuch der Literaturwissenschaft, das in den Jahren 1923 bis 1934 in 20 Bänden und im Umfang von rund 10.000 Seiten erschien. Mit Walzels Handbuch hat das vorliegende allerdings so wenig gemeinsam wie mit jenem Nachfolgeprojekt, das den Titel Neues Handbuch der Literaturwissenschaft trägt und unter der Hauptherausgeberschaft Klaus von Sees zwischen 1978 und 2002 in 24 Bänden veröffentlicht wurde. Sieht man von Walzels erstem Band ab (Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters), der immerhin im Umfang von 400 Seiten eine systematische Grundlegung der Literaturwissenschaft entwirft, sind beide Großunternehmen Handbücher zur Literaturgeschichte und dies mit dem Anspruch, über die gesamte Weltliteratur zu informieren.

Solchen Ansprüchen stehen diese drei Bände des Handbuchs Literaturwissenschaft vollkommen fern. Sie haben andere. Und diese ergeben sich mit einiger Konsequenz aus den Entwicklungen der Literaturwissenschaft seit dem 19. Jahrhundert. Wie man in Kapiteln zur Geschichte der Literaturwissenschaft im dritten Band dieses Handbuchs nachlesen kann (vgl. III.1.1-III.1.3), wird der Terminus ›Literaturwissenschaft‹ offiziell erstmals 1828 in einem Verlagsverzeichnis verwendet, erhält programmatische Bedeutung aber erst in den 1880er Jahren. In einer Zeit, in der auch die Literatur (des Naturalismus) an der Erfolgsgeschichte der modernen Naturwissenschaft partizipieren wollte, akzentuierte die Verwendung des Begriffs ›Literaturwissenschaft‹ den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit bei der akademischen Beschäftigung mit Literatur. Diesen Anspruch signalisiert auch der Titel des literaturgeschichtlichen Handbuchs von Oskar Walzel und er kennzeichnet die akademische Literaturgeschichtsschreibung nach wie vor.

Literaturwissenschaft ist allerdings längst nicht mehr mit Literaturgeschichtsschreibung gleichzusetzen. Und ihre selbstreflexive Verwissenschaftlichung hat inzwischen ein nur noch schwer überschaubares Ausmaß angenommen. Daher ist es vielleicht hilfreich, dass ihre vielfältigen Gegenstandsbereiche und Grundbegriffe, ihre theoretischen und methodischen Grundlagen sowie ihre institutionellen Verankerungen und Praxisfelder umfassend und systematisch in Form eines eigenen Handbuchs dargestellt werden.

Die drei Bände verstehen sich als eine Bestandsaufnahme und Positionsbestimmung der Literaturwissenschaft im 21. Jahrhundert. Alle Beiträge tragen dem gegenwärtigen Stand der Forschung Rechnung und bemühen sich um eine Darstellung, die auch für Studierende der Literaturwissenschaft und für Wissenschaftler in anderen Fächern nachvollziehbar ist. Das Handbuch will dabei deutlich machen, was literaturwissenschaftliche Theorien, Methoden und Fragestellungen für die Sprach-, Kultur-, Sozial-, Kunst- und Medienwissenschaften zu leisten vermögen und was sie von diesen an Impulsen erhalten haben. Der Literaturbegriff ist so weit gefasst, dass er literarische Erscheinungsformen sowohl der Elite- als auch der Massenkultur und ihrer neuen Medien einbezieht, die ästhetischen Affinitäten von Literatur und anderen Künsten beachtet und Literarizitätsmerkmale von Texten, die gewöhnlich nicht der Kunst zugerechnet werden, in den Blick bekommt. Die Bände möchten dabei nicht zuletzt zeigen, welche Kompetenzen Literaturwissenschaft zur Analyse und Beschreibung eines breiten Spektrums von Kulturphänomenen vermitteln kann. Man muss nicht gleich die gesamte Kultur zu textuellen Sachverhalten erklären und damit die Zuständigkeiten der Literaturwissenschaft ins Grenzenlose ausweiten. Es gibt jedoch viele für andere Disziplinen wichtig gewordene Forschungsbereiche, in denen Literaturwissenschaft aufgrund der besonderen Beschaffenheit ihrer Gegenstände einschlägige und langjährige analytische Erfahrungen gesammelt hat, etwa im Umgang mit diversen Formen des Erzählens, mit bildlichen Redeweisen, mit Fiktionalität, mit der Beziehung von Texten auf andere Texte oder mit kultureller Fremdheit.

Der erste Band gibt einen einführenden Überblick über Gegenstände und Grundbegriffe der Literaturwissenschaft auf der Basis gegenwärtiger Positionen. Die Systematik orientiert sich an einem Modell literarischer Kommunikation, das vom literarischen Text und seinen Merkmalen ausgeht, Instanzen der literarischen Produktion und Rezeption beschreibt und die medialen, institutionellen und normativen Bedingungen, die Instanzen reflexiver Selbstbeobachtung sowie die Kontexte literarischer Kommunikation mit einbezieht.

Der zweite Band stellt divergierende Verfahrensweisen und Konzepte der Literaturwissenschaft vor. Er vertieft, relativiert und problematisiert damit einige Ausführungen aus dem ersten Band. Analog zum Aufbau des ersten Bandes stehen hier Konzepte der Bearbeitung, Beschreibung, Analyse, Interpretation und Bewertung von literarischen Texten am Anfang. Weitere Kapitel geben einen ebenfalls an den zentralen Instanzen literarischer Kommunikation orientierten Überblick über Theorien, Methoden und Fragestellungen der Literaturwissenschaft und der Literaturgeschichtsschreibung. Das abschließende Kapitel informiert über Aspekte interdisziplinären Arbeitens und über die Beziehungen zwischen Literaturwissenschaft und zwölf anderen wissenschaftlichen Disziplinen.

Im dritten Band beobachtet, beschreibt und reflektiert sich Literaturwissenschaft selbst, und zwar zunächst historisch, dann gegenwartsbezogen im Blick auf die unterschiedlichen Institutionen, in denen Literaturwissenschaft betrieben wird. Weitere Kapitel widmen sich den Berufsfeldern, in denen Literaturwissenschaftler tätig sind, ihrer Schreib- und Publikationspraxis und dabei nicht zuletzt ihren Hilfsmitteln und Methoden der Recherche.

An dem Handbuch haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen mitgearbeitet, nicht nur aus der Germanistik, sondern auch der Anglistik, Romanistik, Slawistik oder Komparatistik, aus der Sprach-, Theater-, Medien-, Buch- oder Bibliothekswissenschaft. Auch wenn das Handbuch in deutscher Sprache verfasst ist, sich also vorrangig an ein deutschsprachiges Publikum wendet und wenn die exemplarisch ausgewählten Texte und Gegenstandsbereiche überwiegend dem deutschsprachigen Raum entnommen sind, ist es kein Handbuch einer deutschen oder germanistischen Literaturwissenschaft. Literaturwissenschaft ist aufgrund zwangsläufig eingeschränkter Kompetenzen, Spezialisierungen und divergierender Funktionszusammenhänge zwar nach wie vor hinsichtlich ihrer Untersuchungsgegenstände nationalphilologischen Begrenzungen unterworfen und auch in der komparatistischen Praxis meist auf eine stark eingegrenzte Zahl sprachlicher Kulturen beschränkt, ihre Begriffs- und Theoriebildung sowie ihre analytischen Instrumentarien sind jedoch transnational.

Darin zumindest gleicht dieses Handbuch den erwähnten Handbüchern zur Weltgeschichte der Literatur. Und auch wenn die Literaturgeschichte nicht sein zentraler Gegenstand ist, sondern nur exemplarische Berücksichtigung findet, ist die Historizität literaturwissenschaftlicher Untersuchungsgegenstände ständiger Bezugspunkt der Ausführungen. Denn es ist die historisch-kulturelle Fremdheit und es sind generell Störungen in literarischen Kommunikationsprozessen, die das prototypische Szenarium literaturwissenschaftlicher Tätigkeit und Kommunikation kennzeichnen: die Konfrontation mit nur bruchstückhaft überlieferten, entstellten, der Öffentlichkeit schwer zugänglichen, verschwundenen, vom Verschwinden oder Vergessen bedrohten Texten oder mit solchen, die kaum noch verständlich oder gravierenden Missverständnissen ausgesetzt sind, die es aber wert scheinen, noch in der Gegenwart gelesen zu werden. Hier ist das ganze Instrumentarium professioneller Umgangsformen mit Texten gefordert: das der Editionsphilologie, der Textanalyse, der Kontextualisierung und der Interpretation. Sogar noch dort, wo dekonstruktivistisch die Lesbarkeit von literarischen Texten prinzipiell in Frage gestellt wird und alle analytischen Anstrengungen auf den Nachweis hinauslaufen, dass Texte einen ihnen zugewiesenen Sinn unterlaufen, ist das Bemühen erkennbar, falsches, textunangemessenes Verstehen zugunsten eines adäquateren zu verhindern.

Wie in anderen Humanwissenschaften, etwa in der Neurologie und Psychologie, sind es auch in der Literaturwissenschaft Störungen, Abweichungen vom glatten, normalen und unauffälligen Funktionieren der Untersuchungsobjekte, die den Erkenntnisprozess fördern. In der Linguistik hilft die Bildung ungrammatischer Sätze, grammatische Regeln zu erkennen. Literaturwissenschaft ist ständig mit sprachlichen Gegenständen befasst, die es selbst darauf anlegen, aufmerksamkeitsbindende und erkenntnisfördernde Abweichungen von normalsprachlichen Regeln und alltäglichen Kommunikationsroutinen zu generieren, die damit zusätzlich zu ihrer oft historisch bedingten Unverständlichkeit dem Verstehen Schwierigkeiten bereiten und eine Herausforderung sind, die literarischen Verfahrensweisen zu durchschauen.

Neben und zusammen mit partiellen Reduzierungen von Störungen in literarischen Kommunikationsprozessen hat es sich Literaturwissenschaft zur Aufgabe gemacht, Einsichten in das Funktionieren solcher Prozesse zu gewinnen. Dass sie dabei dazu neigt, die Grenzen philologischer Kernkompetenz ständig zu überschreiten, ihre Gegenstandsbereiche auszuweiten und versuchsweise Orientierungshilfen bei anderen Wissenschaften zu suchen, und zwar mit wechselnden Vorlieben, ist ihr oft vorgeworfen worden, vor allem von Vertretern der Literaturwissenschaft selbst, die um die Identität ihres Faches und damit auch um die eigene besorgt sind. Der Hauptgrund dafür, dass Literaturwissenschaft solche Risiken potenziell dilettantischer Anlehnungen an ›fachfremde‹ Disziplinen eingeht, ist allerdings in der Komplexität literarischer Kommunikation selbst zu sehen. Literatur ist ein Produkt kreativen Denkens, Fantasierens, Formulierens und Schreibens, sie wird verbreitet, bedarf dazu diverser Medien und Institutionen, und sie wird gehört oder gelesen. Und alle diese Teilbereiche literarischer Kommunikation unterliegen rechtlichen, ökonomischen und anderen Normierungsprozessen und werden, in Poetiken und Ästhetiken, von selbstreflexiven Prozessen begleitet. Autoren beschäftigen sich und ihre Leser im Medium von literarischen Texten mit allen möglichen Dingen und sie beziehen sich dabei auf Religion und Philosophie, Kunst und Wissenschaft, Recht, Wirtschaft und nicht zuletzt auf Politik. Literaturwissenschaft kann das alles nicht ausklammern, wenn sie ihre Gegenstände mit entsprechender Komplexität untersuchen möchte.

Dilettanten bleiben Literaturwissenschaftler wohl ohnehin ihr Leben lang. Allein schon die Menge der Texte, die sie eigentlich gelesen haben sollten, und ein fragiles Gedächtnis, das vom Gelesenen schon nach kurzer Zeit nur noch Bruchstücke in Erinnerung behält und zu ständiger Wiederholungslektüre anhält, verurteilen sie dazu. Da helfen nur Beschränkungen, Spezialisierungen und Blicke darauf, was andere Spezialisten in den Forschungsfeldern erarbeitet haben, auf die man sich selbst nicht eigenständig einlassen konnte. Und hilfreich ist weiterhin eine gewisse Stabilität der Konzepte und Verfahrensweisen im Umgang mit den Forschungsobjekten.

Das ist allerdings die Perspektive eines einzelnen Wissenschaftlers. Begreift er sich als Bestandteil eines Systems, ist er inzwischen gewohnt, die Ausweitung literaturwissenschaftlicher Gegenstandsbereiche und die Spezialisierungen auf einzelne dieser Bereiche als Ausdifferenzierungsprozesse innerhalb des Systems zu beschreiben. Das System scheint dann zu leisten, was er selbst nicht oder nur in kleinen Bereichen zu leisten vermag, es organisiert die Leistungen seiner Bestandteile und stellt sie den am System beteiligten Institutionen oder auch seiner Umwelt zur Verfügung. Für alle Teilbereiche des literarischen Kommunikationsprozesses, über die dieses Handbuch informiert, gibt es Spezialisten und diese sind teilweise wiederum eingebunden in eigene Disziplinen, die sich innerhalb oder gegenüber der Literaturwissenschaft verselbstständigt haben. Für die Prozesse literarischer Produktivität beansprucht zum Teil die Kreativitätsforschung ihre Zuständigkeit, für das Verlegen und Vertreiben von Büchern die Buchwissenschaft, die wiederum mit der Bibliothekswissenschaft interagiert. An Forschungen zu den Medien und Institutionen der Literaturvermittlung sind Film- und Medienwissenschaft, die Literaturdidaktik und nicht zuletzt die Theaterwissenschaft beteiligt. Was die Rezeption von Literatur angeht, so hat sich eine Lese- und Leserforschung etabliert. Spezialisierungen innerhalb der Literaturwissenschaft erfolgen unter anderem in der Gattungsforschung. Im letzten Jahrzehnt hat sich besonders die Narratologie zu einem eigenständigen Forschungsbereich entwickelt, ansatzweise zum Beispiel auch die Biografieforschung. Konstituiert hat sich nicht zuletzt ein Forschungsfeld, in dem die Literaturwissenschaft ihre eigene Entwicklung und Organisation untersucht, sich als Wissenschaftsgeschichte selbst reflektiert.

Solche Spezialisierungen und institutionellen Ausdifferenzierungen erhöhen die Leistungsfähigkeit des Wissenschaftssystems erheblich, sie haben jedoch einen hohen Preis, der den Gewinn gefährdet, manche Besorgnis um die Identität eines Faches gerechtfertigt erscheinen lässt und Programme zur Entdifferenzierung initiiert. Er besteht darin, dass sich die spezialisierten Institutionen und Forschungsgebiete oft nicht mehr gegenseitig wahrnehmen, ihre Wissensbestände nicht mehr abgleichen und nicht mehr den Stellenwert erkennen, den sie in größeren Zusammenhängen haben.

Ausdifferenzierungen eines Systems müssen in systemtheoretischer Perspektive mit wachsenden Integrationsleistungen einhergehen. Im Blick auf das Gesamtsystem der Wissenschaft entspricht dem seit Jahren das Postulat inter- und transdisziplinärer Forschung. Innerhalb einer Wissenschaft können auch Handbücher dazu geeignet sein, solche Integrationsleistungen zu erbringen.

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